Samstag, 27. Februar 2016

Mit Hannes unterwegs - Auf dem E1 von Flensburg bis Konstanz

 



Im Jahr 2014 beschlossen Hannes und ich, uns gemeinsam auf den Weg zu machen. Das Projekt heißt Europäischer Fernwanderweg 1, im Folgenden E1 genannt. Die ganze Strecke reicht vom Nordkap bis nach Sizilien. Wir werden Deutschland durchwandern, und zwar von Flensburg bis nach Konstanz.

Da wir weder Privatiers noch in Rente sind, werden wir die Strecke in Etappen aufteilen, je nach Lust und Zeit in längere oder kürzere. Was wir bei diesen gemeinsamen Touren erleben, in Städten und Dörfern, in der Natur, mit anderen Menschen und mit uns selbst, darüber werden wir in diesem Blog berichten. Das hilft uns, das Erlebte besser in Erinnerung zu halten. Vielleicht macht es auch andern Spaß, darüber zu lesen. Und wer weiß, vielleicht lässt sich der eine oder die andere anstecken, selbst auf Wanderschaft zu gehen.

Dies wird kein Reiseführer und keine Anleitung zur Selbstfindung auf dem Weg durch Deutschland. Ich werde einfach erzählen, wie es uns ergangen ist, was wir gesehen haben und was uns besonders im Gedächtnis geblieben ist. Damit es aber einen roten Faden gibt, an dem man sich auf diesem langen Weg festhalten kann, werde ich die Berichte in geografischer Reihe anordnen, und zwar von Norden nach Süden. Wir selbst sind nämlich nicht konsequent in dieser Reihenfolge unterwegs gewesen, sondern haben zwischendurch kürzere Etappen dazwischen geschoben, die von uns aus günstiger zu erreichen waren. Als Orientierungshilfe und für potentielle Mit- oder Nachwanderer stelle ich jeder Wanderetappe die Tagesstrecken mit Kilometerangaben und Übernachtungen voran. Das Datum im Blog ist der tatsächliche Wandertag.

Und los geht's!


Konstanzer Hafen von der Terrasse des Hotel Konzil

Cappuccino am See oder der Probestart


Es ist Frühsommer 2014. Schon am Konstanzer Bahnhof laden Plakate zur Sonderausstellung „600 Jahre Konstanzer Konzil“. Wir hätten beide Lust auf einen kurzen Gang durch die Ausstellung, denn ehrlich gesagt, kriegen wir auch gemeinsam nicht mehr alle Ereignisse um dieses mittelalterliche Großevent herum zusammen und in die richtige Reihenfolge. Nur dass es um die Wahl eines neuen Papstes ging, sehr viele der Kirchenoberen machtgeil und korrupt waren und der aufrichtige Johannes Hus reingelegt und verbrannt wurde, in Konstanz, auf einem Marktplatz. Soviel ungefähr.

Von der Kaffeeterrasse des Hotel Konzil in Konstanz aus hat man eine herrliche Sicht auf den Bodensee. Wir sitzen in modernen Loungemöbeln, nippen jeder entspannt an einem Cappucino und blicken auf leise im Hafenbecken auf und ab schaukelnde Schiffsmasten. Der Himmel ist weiß-blau, leichter Wind, Regenschauer durchaus noch denkbar. Im Moment aber scheint die Sonne.


Den Ausstellungsbesuch werden wir später im Jahr nachholen. Jetzt trinken wir die Kaffeetassen aus und schultern unter den anerkennenden Blicken der Bedienungen unsere großen Rucksäcke. Hannes hat einen nagelneuen knallroten Deuter und ist ständig mit Herumnesteln und Justieren der diversen Riemen beschäftigt. Vor uns liegen 18 Kilometer Fußmarsch von Konstanz nach Langenrain - unsere erste gemeinsame Etappe auf dem Europäischen Fernwanderweg 1. Dieser Weg reicht eigentlich vom Nordkap nach Sizilien. Eine Gedenktafel im Konstanzer Hafen erinnert heute noch an die Einrichtung dieses Weges Anfang der 70er Jahre mit der bestechenden Idee, die Freude am Wandern mit dem Ideal der Völkerverständigung zu verbinden. Uns geht es heute ehrlich gesagt weniger um solche hohen Ziele und wir haben uns auch nicht ganz so viel vorgenommen. Unser Projekt lautet: Einmal zu Fuß durch Deutschland. Zu zweit. Von Flensburg bis an den Bodensee.

Leistung steht für uns auch nicht im Vordergrund. Und, da wir beide berufstätig und nicht in der Position sind, mal eben ein paar Wochen Auszeit am Stück zu nehmen, geht es uns auch nicht um Selbstfindung oder gar Grenzerfahrungen. Wir wollen auf diesem Weg entdecken, was wir gar nicht gesucht haben. Und kennen lernen, was uns bisher noch fremd war. Auch uns gegenseitig. Denn so richtig lang sind wir beide noch kein Paar und wenn man den Therapeuten glauben darf, dann lernen Pärchen sich erst richtig beim gemeinsamen Urlaub kennen. Das sei wohl so eine Art Feuerprobe für Neuverliebte. So nach dem Motto: Wer das durchsteht, dem graust‘s auch später vor nix mehr. Aber dazu später. Heute stehen wir erst mal am Konstanzer Bodenseeufer und suchen nach einem Wegweiser nach Langenrain.



Die gelben Wegweiser nach Langenrain und anderen Zielen rund um den See haben wir nach kurzem Umherbummeln am Hafen rasch entdeckt. Davor lagern einige offensichtlich nicht sesshafte Männer mit ihren Hunden und zetern lautstark, dass die Touristen hier ständig weniger Geld rausrücken würden. Ein langer Typ mit Bart und Hut weiß auch weshalb: „Die vielen ausländischen Bettler machen den deutschen Obdachlosen das ganze Geschäft kaputt!“ Na, denn. Auf geht’s, über den Rhein.

Lebensgefährte im Stresstest

Ach, ja, fast vergessen: Wir wandern dieses erste Mal von Süden nach Norden – das heißt, nach der „klassischen“ ersten Tourenbeschreibung von Arthur Krause [1] eigentlich in die falsche Richtung. Das ist uns auch klar. Wir wollten jedoch vor der endgültigen Entscheidung, den E1 als Projekt gemeinsam in Angriff zu nehmen, vorab unsere gemeinsame Wanderfähigkeit als Paar testen. Stundenlanges gemeinsames Laufen durch Nadelwälder, entlang von Maisfeldern und auf öden Asphaltstrecken stellt bekanntlich andere Herausforderungen an die Paarbeziehung, als gemeinsame Kino- oder Theaterbesuche oder fröhliche Feste im Kreise der Familien. Blasen, langanhaltende Regenschauer und falsche Abkürzungen sowieso. Und wie strapazierfähig mein neuer Lebensgefährte im Ernstfall ist, war noch nicht ausgereizt. So übermäßig sportlich kam er mir bei aller Zuneigung auch beim zweiten Hinschauen nicht vor.

 Ich, Hiltrud, war bereits zwei Jahre zuvor allein gestartet. Wie es sich gehört mit einer Fahrt im Nachtzug von Tübingen nach Flensburg und von da in vorgeschriebener Nord-Süd-Richtung in zehn Etappen bis in die Eulenspiegelstadt Mölln. Noch ohne Hannes, den gab es damals in meinem Leben noch nicht. Als Single unterwegs sammelte ich bereits einschlägige Erfahrungen: Zum Beispiel, was es mit einem „macht“, wenn man sich nach stundenlanger „Asphalthatscherei“ kurz vor dem Tagesziel wähnt und dann feststellt, dass man einen völlig unnötigen Bogen gelaufen ist. Und dass die angepeilte Ortschaft nicht die nächste, sondern erst die übernächste ist. Oder wenn in der größten Mittagshitze zwar ein einladendes Gasthaus am Weg steht, diese einzige Kneipe am Ort aber erst ab Fünf Uhr abends wieder öffnet.

Schöne Aussicht im Rücken

Kurzum, wir hielten es für ratsam, mit einer kürzeren Wegstrecke das Unterfangen erstmal vorsichtig zu testen. Ein Pilotprojekt sozusagen. Ohne allzu langen Anfahrtsweg und mit maximal 3 Übernachtungen. Nach ausgiebigen Studium von Landkarten, Internetseiten [2] und Bahnverbindungen entschieden wir uns für die letzten 4 Etappen von Blumberg bis nach Konstanz. So konnten wir mit dem Auto in einer knappen Stunde von Hannes‘ Wohnort nach Blumberg fahren, dort das Auto bequem am Bahnhof stehen lassen und den Zug direkt ohne Umsteigen nach Konstanz nehmen. Den Weg würden wir wie gesagt in umgekehrter Richtung machen, da wir in unserer Unerfahrenheit annahmen, dies sei schließlich egal. Was es nicht ist, denn es spielt es für die Bemessung eines gut machbaren Streckenpensums sehr wohl eine Rolle, in welcher Abfolge Auf- und Abstiege hintereinander kommen. So kam es unter anderem dazu, dass wir an den besonders langen Etappen, nicht wie von der Streckenplanung vorgesehen, viele Stunden bergab, sondern bergauf wanderten. Außerdem hatten wir die meiste Zeit den wunderbaren Blick auf den Bodensee und später die Hegauvulkane - im Rücken. Unsere erste Lektion hatten wir bald gelernt: Es empfiehlt sich, die Tipps erfahrener Wanderer, die die Strecke bereits gemacht haben, zumindest ernsthaft anzuhören und wenn möglich zu befolgen.

Nichts desto trotz kamen wir unbeschadet nach vier Tagen am Bahnhof Blumberg an, hatten vier anstrengende erste Wandertage mit vielen unvergessenen Erlebnissen hinter uns und waren sicher: Wir machen weiter.

Freitag, 6. November 2015

Hermannsdenkmal bei Detmold


Cheruskerfürst im Nebel

(Von Detmold nach Altenbeken )

Wir nehmen den Zug früh um kurz nach acht von Paderborn nach Detmold und dann den Bus bis zum Stadtteil Hiddesen. Von hier an geht es wieder zu Fuß, und zwar gleich ordentlich steil hinauf bis zum Hermannsdenkmal auf dem Teutberg. Das hoch patriotische Denkmal des Cheruskerfürsten stammt aus der Bismarckzeit und ist sehr groß. Der Hermann selbst ist über 26 Meter hoch und zusammen mit dem Sockel ist das Trumm ganze 53,5 Meter hoch – die höchste Statue Deutschlands. Ja, groß ist er, ob auch schön, darüber kann man streiten. Oben auf dem Berg war es total neblig, was vielleicht kein Fehler war: Es hüllte Statue und Sockel in mildes Dämmerlicht. Im Sommer muss hier ein ordentlicher Rummel herrschen. Es gibt hier jede Menge Kioske, Attraktionen für die Kids und diverse Einkehrmöglichkeiten, und wer will, kann sich in der Touristinfo einen 35 Zentimeter großen Miniatur-Hermann zum Aufstellen im Wohnzimmer mit nach Hause nehmen. Jenseits von Kommerz und Kitsch bekommt man aber auch eine Menge interessanter Infos über die Hintergründe und Intentionen, die mit der Aufstellung dieses deutsch-nationalen Monuments verbunden waren. Leider war das Wetter inzwischen ziemlich kühl und nieselig geworden und verdarb uns den Spaß an der Lektüre der zahlreichen Infotafeln. Wir gingen daher in das einzige noch offene Lokal vor Ort, tranken einen Kaffee und taten, was Weitwandere gewöhnlich an solchen Orten tun: Aufwärmen, Wasserflasche auffüllen, in Ruhe auf eine saubere Toilette gehen und ausgiebig Hände waschen.

Montag, 5. Oktober 2015


"Der Hasen und der Löffel drei, und doch hat jeder Hase zwei."

In Westfalens katholischem Herzen


Wie viele Kirchen gibt es in Paderborn? Wir haben es auf die Schnelle nicht herausfinden können. Aber spontan würde ich sagen, es sind zu viele. Wir haben uns für diese Stadt einen ganzen Tag Zeit genommen, aber irgendwie fällt es uns schwer, uns zu beschäftigen. Der erste Weg am Morgen führt uns – wie kann es hier anders sein – von der Jugendherberge ins Zentrum und damit zum Dom. Zuerst kommen wir zum Quellgebiet der Pader, ein wirklich schön angelegter offener Parkbereich mit viel Wasser. Hier entspringt aus 200 Quellen die Pader, der kürzeste Fluss Deutschlands. Schon nach 4 Kilometern bei Schloss Neuhaus mündet die Pader in die Lippe, einen wesentlich wasserärmeren Fluss. Aber nichts desto trotz: Schluss ist da mit der Pader.

Direkt am Quellgebiet liegt die karolingische Kaiserpfalz, der Ort, an dem Karl der Große die erste fränkische Reichsversammlung auf sächsischem Boden abhielt. Ja, Paderborn lag damals mitten im Sachsenrein. Von dieser Pfalz stehen nur noch Grundmauern. Aber auf den Fundamenten der nachfolgenden ottonisch-salischen Kaiserpfalz aus dem 11. Jahrhundert wurde in den 1970er Jahren eine Rekonstruktion errichtet, in der sich heute ein Museum befindet. Ich wäre unheimlich gern reingegangen, aber wie schon erwähnt, es war Montag und alle Museen geschlossen. Ich war richtig traurig. Und so blieb uns nichts Anderes übrig, als eine Auswahl der zahlreichen Paderborner Kirchen der Reihe nach abzuklappern.

Kaum zu sehen: der Dom hinter dem Diözesanmuseum


Von außen macht der Dom einen majestätischen Eindruck, vorausgesetzt man schafft es, sich so hinzustellen, dass einem das mitten auf den Domplatz geklatschte Diözesanmuseum nicht den Blick versperrt. Eine städtebauliche Entgleisung ersten Grades! Ein monströses Ungetüm aus Beton, Glas und rot lackierten Metallverstrebungen klotzt mitten vor der Paradiespforte und lässt nur noch den Turm hinter sich vorlugen. Eine alte Dame steigt auf dem Parkplatz vor dem Museum in einen Mercedes Van und will offensichtlich aus einer verdammt engen Parklücke ausparken. Wir freuen uns schon auf eine umständliche Prozedur und schauen interessiert zu. Doch welche Überraschung – die Oma stößt zurück, schlägt ein zweimal ein und fährt schnittig davon. Wir sind ganz baff.

Im Dom suchen wir dann das berühmte Hasenfenster, eines der Wahrzeichen der Stadt Paderborn, wie die Stecknadel im Heuhaufen. Ich wollte schon aufgeben, aber Hannes hat es im Kreuzgang schließlich doch entdeckt. Ein Steinmetz aus dem 16. Jahrhundert hat das runde Fensterbild aus rotem Sandstein gehauen. Drei Hasen springen im Kreis, das Besondere daran beschreibt ein Spruch: „Der Hasen und der Löffel drei und doch hat jeder Hase zwei“. Man muss das Bild eine Weile auf sich wirken lassen, dann fällt einem das Kuriose daran erst richtig auf. Das Motiv mit den drei Hasen hat mich noch eine ganze Weile beschäftigt. Ich nutze die warme Mittagssonne, um in einem Café über Hasen im Volksglauben und in der Kunst nachzulesen. Solche Hasenbilder gibt es nicht nur in Paderborn. Besonders in England waren sie im Mittelalter sehr beliebt. Aber es ist noch viel älter. Schon in der Römerzeit waren die „Drei Hasen“ beliebt und schmückten unzählige Öllämpchen. Vermutlich wurde das Motiv über die Seidenstraße aus China nach Europa gebracht. Natürlich ist der Hase wegen seiner zahlreichen Nachkommenschaft schon lange ein Sinnbild für Fruchtbarkeit gewesen. Aber über verschlungene Gedankengänge hat er es in der Dreigruppe auch zum Symbol der Dreieinigkeit geschafft. 

Irgendwie typisch, erinnert mich an den Witz mit dem Eichhörnchen und dem lieben Jesulein: Fragt die Schwester im katholischen Kindergarten: „Was meint ihr denn, was das ist: es ist braun, hüpft durch den Wald sammelt eifrig Nüsse und hat einen buschigen Schwanz?“ Meint Klein Hänschen: „Normalerweise würde ick ja sagen, es ist ein Eichhörnchen. Aber wie ich den Laden hier kenne, ist es bestimmt das liebe Jesulein.“

Wir bummeln weiter durch die Stadt, bleiben vor vielen Kirchen stehen und gehen in wenige rein. Beeindruckt hat uns die Abdinghofkirche in ihrer romanischen Schlichtheit. Ursprünglich Anfang des 11. Jahrhunderts als Klosterkirche erbaut, wurde die Kirche nach der Säkularisation im 19. Jahrhundert zu einer evangelischen Kirche. Im Zweiten Weltkrieg wurde sie stark beschädigt. Sie wurde aber durch viele Spenden vor allem der Gemeindemitglieder bald wiederaufgebaut. Eine kleine Ausstellung mit Fotos und Texten beschreibt die letzten Kriegswochen und den Wiederaufbau der Kirche. Wir erfahren auch, welch große Bedeutung der Bahnhof Altenbeken damals für Paderborn und die Region hatte. In Altenbeken, wo wir in zwei Tagen übernachten werden, war ein wichtiger Eisenbahnknotenpunkt. Drei Strecken treffen hier aufeinander: Die Strecke über Warburg nach Kassel, die über Paderborn nach Hamm und die Strecke nach Hannover. In der Vergangenheit bedeutete dies, dass es in Altenbeken jeden Tag mehrere Tausend Umsteiger gab.


Den Rest unseres Ruhetags in Paderborn verbringen wir mit Essen, Lesen, Schaufenster schauen und Wein trinken. Am nächsten Morgen dürfen wir in der Jugendherberge freundlicherweise unser Frühstück mitnehmen, damit wir rechtzeitig den Zug nach Detmold erwischen. Wir bekommen sogar noch zwei Vespertüten mit Getränken und Süßies zum Einpacken unserer Brote.

Samstag, 3. Oktober 2015


Immer weiter, bis nach Linderhofe


Die Herrschaften aus Hameln kommen so gegen 18 Uhr an


Schon bei der Lektüre der Etappenbeschreibung ahnten wir, dass es hart werden würde: 33 Kilometer Wegstrecke, 1054 Höhenmeter Aufstiege und fast 800 Meter Abstiege. Wir buchten noch von der Jugendherberge in Hameln aus ein Zimmer im Hotel zur Burg Sternberg in Linderhofe im Extertal. Auf unsere vorsichtige Anfrage bei der Hotelrezeption, ob denn die Strecke für Normalwanderer zu schaffen sei und wie lange wir wohl brauchen würden, erhielten wir die ausweichende Antwort: Viele Wanderer würden die Strecke in zwei Tagen machen. Manche packten es aber auch an einem. „Die Herrschaften aus Hameln kommen dann meistens so gegen 18 Uhr hier an.“ Von einem anderen E1 Wanderer Ehepaar hörten wir zwei Tage später, dass sie es auch an einem Tag geschafft hatten, aber bei der Ankunft in Linderhofe dann auch total geschafft waren. Erst nach Einbruch der Dunkelheit seien sie im Hotel gewesen und so kaputt, dass sie sich das Abendessen ins Zimmer hatten bringen lassen.
Ganz so schlimm ist es uns nicht ergangen. Aber tatsächlich fehlen uns beiden mehr oder weniger die Erinnerungen an diesen Tag. Erst ging es von Hameln aus durch den Wald ziemlich steil hinauf zum Klütturm und weiter durch ein Waldgebiet mit demselben Namen. Später wanderten wir eine kleine Ewigkeit durch Wiesen und Felder und passierten irgendwann den Golfplatz bei Schloss Schwöbber. Hier wurde ich fast von einem fliegenden Golfball abgeschossen. Vor Augen hatten wir die Hohe Asch, ein Aussichtsturm auf 370 Metern, der höchsten Erhebung des Extertals und weithin sichtbar. Hier wollten wir ausgiebig rasten und uns mit Kaffee oder Bier für den Weiterweg stärken. Schön wär’s gewesen. Es gab zwar viel Aussicht, das ersehnte Lokal schien sich aber erst im Bau zu befinden. Dafür klebte dort ein Zettel vom Hotel Sternberg: Wir erfuhren, wie viele Kilometer noch bis zum Hotel vor uns lagen und dass man uns aber gern mit dem Auto abholen würde. Telefonnummer anbei. Natürlich wanderten wir weiter. Und weiter, und weiter bis zum nächsten Zettel mit Telefonnummer.
Endlich ging es den Berg hinunter und wir sahen ein Hinweisschild zum Campingpark Extertal. „Da will ich hin. Ich will ein Bier trinken.“ Ich war vom stundenlangen Geradeauslaufen so ausgepowert, dass sich meine Gesichtsmuskeln ganz starr anfühlten. Mittlerweile war es auch kühl geworden. „Ne.“ Hannes war genervt. „Jetzt machen wir keine Pause mehr. Es sind bloß noch fünf Kilometer bis zum Hotel, das zieh’n wir jetzt durch.“ „Ich kann nicht mehr und ich will auch nicht mehr.“ Ich war unnachgiebig. „Ich muss mich jetzt irgendwo reinsetzen und was trinken.“ Entschlossen bog ich in die Einfahrt zum Campingpark ein. Hannes trabte missmutig hinterher: „Schau, da steht: Gaststätte ab 17 Uhr geöffnet,“ triumphierte er. „Es ist noch nicht mal ganz Viertel vor Fünf, wir stehen doch hier jetzt nicht rum und warten, bis die aufmachen.“ Mir war zum Heulen. Ich ignorierte meinen grantigen Mann und klingelte an der Tür mit der Aufschrift Rezeption. Und oh Wunder, eine Frau kam und öffnete. „Können wir etwas zu trinken kaufen?“ fragte ich. Wir konnten. Und wir durften uns auch in die offiziell noch geschlossene Gaststube setzen und zuschauen, wie er Sohn des Hauses im großen offenen Kamin ein ordentliches Holzfeuer entfachte. Behagliche Wärme breitete sich aus. Das Bier stieg sofort in den Kopf und deckte alle Fuß- und Gliederschmerzen mit einem wohligen Nebel zu. Jetzt hierbleiben…
Mein sonst so lieber Hannes nippte völlig untypisch an einem kleinen Pilsfläschchen und schaute demonstrativ alle paar Minuten auf seine Uhr. „Ja, doch“, maulte ich. „Jetzt lass mich doch wenigstens ein paar Minuten ausruhen.“ Hannes schimpft in seinen schlimmsten Dialekt: „Sonscht renscht emmer vornadraus. Ausgerechnet heit, wo’s so weit isch, musch du Bier saufa. I will oifach net, dass ons wägä dir no d’Naht auf dr Buckl kommt.“ (Normalerweise rennst du immer vorne weg. Ausgerechnet heute, wo wir so eine weite Strecke haben, möchtest du ein Bier trinken. Ich möchte auf keinen Fall nach Einbruch der Dunkelheit ankommen.)

Die letzten 5 Kilometer hielt ich den Blick starr auf meinen Schrittzähler gerichtet und beobachtete, wie der Mechanismus alle 100 Meter weiterrückte. Als wir im Hotel Burg Sternberg ankamen, wurde es langsam dämmerig. Wir hatten es geschafft – auch mit meiner ertrotzten Einkehr noch vor Einbruch der Dunkelheit. Gegessen haben wir beide ganz manierlich im Speisesaal. Lang gesessen sind wir dort allerdings nicht mehr und auch die Hausbar haben wir an diesem Abend ignoriert. 

Freitag, 2. Oktober 2015

Jugendherberge mit sehr verborgenem Charme

Was wäre Hameln ohne Rattenfänger? 

(Bad Münder nach Hameln)

Wie steil es zum Süntelturm hinaufgeht, stellten wir am nächsten Tag dann selbst fest. Wir versuchten ebenfalls, die knapp 10 Kilometer „im Stechschritt“ zu machen, und kamen dabei ordentlich ins Schwitzen. Später passierten wir das Dreiländereck mit den drei historischen Grenzsteinen vom Königreich Hannover, dem Kurfürstentum Hessen und der Grafschaft Schaumburg. Über wunderschöne Wald- und Wiesenwege gelangen wir am frühen Nachmittag nach Hameln. Auf diese berühmte Stadt waren wir gespannt gewesen. Wir waren enttäuscht. Zwar wird der historische oder erfundene Rattenfänger vermarktet was das Zeug hält, aber sonst? Was machen die 3,8 Millionen jährlichen Tagesgäste, wenn Sie der Rattenspur aus bronzenen Pflastersteinen gefolgt sind und ihren Altstadtrundgang hinter sich haben? Kaffeetrinken, wie wir? Auf einem der vielen „Mittelaltermärkte“ Hand gezogene Bienenwachskerzen und Schaffelle einkaufen? Oder gebannt das neckische Rattenfänger Figurenspiel am Hochzeitshaus bewundern und dem Glockenspiel lauschen?

Wir waren an diesem Tag recht fußlahm und ließen die Altstadt bald hinter uns, um zur Jugendherberge am Weserufer hinauszulaufen. Diese Herberge hat den Charme eines Kraft-durch-Freude-Anwesens und scheint auch aus dieser Zeit zu stammen. Wir hatten eine tolle Nacht. Einige unmotivierte Pfadfinderführer machten mit ihren minderjährigen Schützlingen hier Station und hatten ganz offensichtlich Null-Bock, sich um die nervige Schar zu kümmern. Stundenlang tobten die Bande nachts durch die Gänge und erfreute sich am Lärm der hallenden Schritte und scheppernden Stubentüren. Dass ich ein paarmal „Ruhe“ brüllte, schien sie nur anzufeuern. Jetzt könnte man so einen Flöte spielenden Rattenfänger gebrauchen…

Am nächsten Morgen beim Frühstück kam meine Stunde der Rache. Kaum dass die verpennt dreinschauenden Führerlein den Essraum betraten, schoss ich von meinem Platz auf und stellte die nur halb ausgenüchterten Herren im Kommisston direkt vor dem Büffet zur Rede: „Gehören diese Kinder zu euch?“ Betretenes Nicken. Dann lege ich los: Dass die Rasselbande bis nach Mitternacht durch die Gänge getobt ist. Mit den Türen geknallt und rumgebrüllt hat. Dass keiner von den Verantwortlichen sich drum gekümmert hat. Und dass das nicht geht und eine Zumutung für alle anderen Gäste im Haus ist. Die jungen Männer protestieren nur schwach. Knicken dann völlig ein und schleichen betreten an ihren Tisch. Hannes ist sprachlos ob dieses frühmorgenlichen Donnerwetters aus dem Mund seiner Liebsten. Er sitzt still da und löffelt sein Müsli. Mag sein, dass er sich fremd schämt.
Fußgängerbrücke mit goldener Ratte über die Weser

Nach dem Frühstück brechen wir zügig auf, heute haben wir eine Mammuttour vor uns. Wir überqueren die Weser und knipsen zum Abschied noch die Fußgängerbrücke mit der goldenen Ratte. Ja, die Hamelner haben es geschafft, sich ihre Ratten zu vergolden.
Nachtrag: Laut Hannes habe ich das eigentliche Highlight von Hameln vergessen. Das sei nämlich das Steakhouse Cheyenne, in dem es einen beinahe lebensgroßen Indianer aus Holz zu bewundern und perfekt auf dem Punkt gebrachte Steaks zum Genießen gibt.


Mittwoch, 30. September 2015

Der Wirt der Teufelsbrücke wollte gern, dass wir gemeinsam aufs Bild kommen.

Hundstag – Erlebnisse mit Vierbeinern (Bad Nenndorf nach Bad Münder) 


Am nächsten Morgen müssen wir uns eingestehen, dass die Kuranlagen und der klassizistisch angehauchte Kurpark im Sonnenschein sehr elegant aussehen. Wir stürmen nicht gleich Richtung Deistergebirge, sondern bummeln noch zwischen den frisch renovierten historischen Kurgebäuden. Auf einer Infotafel entdecke ich wunderschöne Naturfotos von knorrig verwachsenen Bäumen an. Ich zeige sie Hannes: „Solche Fotos sollten wir mal machen können. Wo es wohl so krumme Dinger gibt?“ Herrje, unten auf dem Plakat steht es ja: Süntelbuchenallee im Kurpark von Bad Nenndorf. Wir müssen nur den Kopf heben und ein paar Schritte weitergehen, schon stehen wir am Anfang der etwa einen halben Kilometer langen Allee. Die Bäume wachsen eher in die Breite, als in die Höhe. Wie dicke Schlangen winden sich die Äste knapp über dem Boden entlang und scheinen sich dann ineinander zu verknoten. Nur wenige Bäume werden mehr als 10 Meter hoch. Eigentlich handelt es sich um eine Art Rotbuchen, die vor gut 100 Jahren hier angepflanzt wurden und seither im Zickzack wachsen. Angeblich, wegen einem Gendefekt. Genau weiß man das aber nicht.

Unsere treuesten Begleiter in der Frühe sind die Gassigeher. Drei Nenndorferinnen in den besten Jahren in modischen Jeans und Gummistiefeln haben mit ihren sehr lebhaften Lieblingen dasselbe Ziel wie wir: Raus aus dem Park und hinaus ins freie Feld. Die Hunde sind von der Leine und springen zu dritt auf uns zu: „Das macht Ihnen doch nichts aus, oder?“ Doch, tut es. Hannes reagiert säuerlich: „Können Sie die Hunde nicht anleinen?!“ Die Damen sind friedlich, rufen die Hunde zu sich und fragen nach unserem Weg. „Ach, in den Deister. Wunderschöner Weg. Sind wir schon oft gelaufen. Da müssen Sie nur über die Bundesstraße und dann später unter der Autobahn durch.“ Wie so oft erklären wir, dass wir nicht auf dem Jakobsweg unterwegs sind und: „Nein, die Rucksäcke sind nicht so schwer. Wir nehmen nur das Allernötigste mit.“ Wir bekommen noch ungefragt einige Wegbeschreibungen und den Tipp, unbedingt in der Waldgaststätte Teufelsbrücke vorbeizuschauen. „Machen wir, in Gasthäusern schauen wir immer gern vorbei.“

Der Weg zur Teufelsbrücke war nicht ganz so leicht zu finden. Die Gegend um Bad Nenndorf ist zwar für Wanderer gut erschlossenen und großzügig ausgeschildert. Aber manchmal wäre weniger eher mehr. So wissen wir vor lauter Wegweisern nicht so recht, welchen Weg wir einschlagen sollen und tappen ein paarmal hin und her. Dabei hätten wir im Grunde mehr oder weniger immer geradeaus den Berg hinauflaufen müssen.
An der Teufelsbrücke werden wir beinahe schon erwartet. Die Wirtin und ihr Partner sitzen vor der Hütte und trinken gerade selbst Kaffee. Sie hat bereits einen langen Spaziergang mit Hund hinter sich und zeigt ihrem Mann begeistert die Fotos auf dem Smartphone, die sie in aller Herrgottsfrühe gemacht hat. Ihre Begeisterung für die heimische Landschaft und ihre Tiere ist anrührend. Auch wir bekommen einen Kaffee und kommen ins Gespräch. Seit mehr als 20 Jahren lebt die Wirtin schon allein hier im Wald und managt das kleine Gasthaus. Am Wochenende ist viel los, dann wandern Ausflügler aus der Gegend hier an die Teufelsbrücke und genießen die Ruhe an diesem abgeschiedenen Plätzchen. Früher sei viel mehr los gewesen. „Jeden Tag habe ich einen Kuchen gebacken und ihn an Kurgäste aus Bad Nenndorf verkauft. Heute kommt kaum noch jemand unter der Woche die sechs Kilometer hier hoch. Die Leute schaffen das nicht mehr. Die meisten sind zu alt oder zu krank, um so weit zu laufen.“ Deutlich bekommt sie zu spüren, dass Kuren nur noch für kurze Zeit und an wirklich schwer gehandicapte Patienten verschrieben werden. „Wenn die Leute wieder fit genug sind, um so weit wandern zu können, ist ihr Kuraufenthalt zu Ende.“

Aus dem Hintergrund hören wir eine Art Gurren und Piepsen: „Halten Sie hier auch Hühner?“, fragen wir. Die Wirtin lacht. „Das ist unser Hund. Der gibt so komische Töne von sich. Ist aber sonst ganz normal.“ Wir schauen nach oben. Tatsächlich, zwischen den Balkonlatten lugt eine Hundeschnauze hervor. Ob der auch Eier legt, fragen wir. „Leider nein“, lacht unsere Wirtin wieder, „das wäre schon praktisch, hier draußen“.

Vormittags ist es an der Teufelsbrücke noch recht schattig. Trotz heißem Kaffee wird uns kühl und wir verabschieden uns. Auf dem Kammweg, einem viele hundert Jahre alten Verbindungsweg, geht es über den Deisterrücken. Am Annaturm machen wir Mittag

Heliotrop zus Landvermessung nach Gauß


Als begeisterte Leser von Daniel Kehlmanns Vermessung der Welt sind wir natürlich sehr interessiert, als wir in der schlichten Turmgaststätte lesen, dass der erste Turm an dieser Stelle auf Veranlassung des Mathematikers Karl Gauß errichtet wurde. Eine Tafel an der Wand erklärt, dass Gauß in den Jahren 1833/34 hier eine einfache Holz-Stahl-Kontruktion als Messpunkt errichten ließ, vom dem er auch selbst Landvermessungen durchführte. Genau auf dem Bröhn nämlich befindet sich mit 403, 8 Meter der höchste Punkt auf dem Deisterkamm und in der Region Hannover. Das von ihm eigens für die Landvermessung entwickelte Gerät, der sogenannte Heliotrop, kann im Turmstübchen bewundert werden. Schade, dass wir keinen Zehn-Mark-Schein mehr haben. Auf der letzten in Umlauf gekommenen Version waren sie noch beide zu sehen: Karl Gauß und sein Heliotrop.

Beschwingt machen wir den Rest des Weges nach Bad Münder. Der Himmel ist wolkenlos, die Sonne scheint, bis sie schließlich im Westen hinter den Bergrücken des Süntel, der Heimat der Süntelbuchen, verschwindet. Altweibersommer, in seiner schönsten Form. Kaum in Bad Münder angekommen, wird unsere Paarbeziehung auf eine harte Probe gestellt. Mir stinkt unsere Unterkunft, und zwar in des Wortes ureigenster Bedeutung. Hannes war schon den ganzen Vormittag über unruhig gewesen, weil wir noch kein Zimmer für die Nacht gebucht hatten. Er wollte eine Adresse von einer privaten Zimmervermietung, die wir uns zu Hause notiert hatten, anrufen und buchen. Ich wollte lieber abwarten, was wir vor Ort vorfinden würden. Ich übernachte nicht gern in Privatunterkünften. Bestimmt würden wir noch etwas Anderes finden. Hannes ließ nicht locker und seine Miene verdunkelte sich stündlich mehr. Am Ende gab ich nach und Hannes buchte bei Frau A.

Zimmer mit Puzzleschmuck

Erst konnten wir das Häuschen gar nicht finden, es war in einen Hinterhof zwischen anderen Gebäuden und Garagen hineingeklemmt worden. Das erste, was wir dann auf unser Klingeln hörten, war lautes Gebell. Zwei große Doggen (?) – hier gehen unsere Erinnerungen auseinander – versuchten sich an Frau A. vorbei zur Haustür hinaus zu drängen. Das Zimmer war so einigermaßen OK, festgeklebte Puzzlebilder mit Meeresstimmungen vom Mittelmeer und der Südsee an den Wänden, knitterfreie Bettwäsche, das Etagenbad auch mehr oder weniger passabel. Was ich aber nicht ab konnte, war der penetrante Geruch nach Hundehaaren und Zigarettenrauch, der alles überlagerte. Hannes meinte, ich ein neurotisches Geruchsproblem. Er würde im Zimmer nichts riechen. Nur im Flur, aber nur Zigarettenrauch. Aber er riecht sowieso nicht gut. Ich war ziemlich gereizt. Wenn ich auf dem Bett lag und die Augen zumachte, sah ich die Hunde quasi vor mir, so schlimm war der Geruch. Bloß gut, dass auf dem Teppichboden (auch das noch), nicht auch noch Hundehaare lagen. Und alles nur, wegen diesem extremen Sicherheitsbedürfnis. Natürlich hätte es in Bad Münder noch jede Menge Gasthäuser und Hotels gegeben. Und garantiert auch freie Zimmer.

Wir machten, dass wir unter die Dusche im Etagenbad kamen und dann nichts wie raus aus dem Haus. Wir hatten die Haustür noch in der Hand, als mit wütendem Gebell die beiden Riesenköter hinter dem Haus vorgeprescht kamen und direkt vor uns vor einem knapp 50 Zentimeter hohen Gartenzäunchen stehenblieben. Sie bleckten die Zähne und knurrten uns an. Hannes und ich drückten uns rückwärts gegen die Hauswand. Wohin sollten wir fliehen? Wir hätten keine Chance, den Zaun würden die beiden mit Leichtigkeit überspringen. Gottlob kam sogleich Frau A. um die Ecke: „Die tun nichts. Die wollen nur spielen.“ (Kein Witz.) Wir erfuhren, dass die beiden zwar wie Doggen aussehen würden, aber in Wahrheit zwei richtige Kuschelbärchen seien. Wir könnten unbesorgt weitergehen. Alles sei gut. Ganz langsam, die beiden Kuschelbärchen fest im Auge, gingen wir über den Hof und dann ums nächste Haus herum auf die Straße. Hier schnappte ich Hannes fest an der Hand und wir legten einen Zahn zu. Bloß schnell Land gewinnen…
Im Kornhus, einem gemütlich eingerichteten Gasthaus in einem alten Kornspeicher aus der Zeit der sogenannten „Weserrenaissance“ kamen wir zur Ruhe. Die Inhaberin Frau Mildenberger erklärte uns die diversen Bierspezialitäten und brachte uns geduldig verschiedene Sorten zum Probieren an den Tisch. Als sie uns über die Wegstrecke des kommenden Tages diskutieren sah, rückte sie mit ihrem Geheimnis raus: Auch sie und ihr Mann sind begeisterte Wanderer. Einige spektakuläre Touren haben die beiden schon gemeinsam gemacht. Leider können Hannes und ich uns hier rückblickend nicht mehr einigen. Ich war überzeugt, unsere neue Freundin hätte uns von einer mehrwöchigen Treckingtour im Himalaya berichtet. Hannes behauptet, die beiden hätten den Kilimandscharo bestiegen. Wie auch immer, wir beide hörten mit offenem Mund zu. So etwas Großartiges würden wir auch gern mal machen. Das stärkt die Paarbeziehung natürlich ganz anders als ein Marsch auf dem E1. Wie sie sich denn hier im doch eher bescheidenen Mittelgebirge auf so eine Tour vorbereitet haben? Sie grinste. „Eigentlich ganz unprofessionell, immer sonntags von hier aus im Stechschritt zum Süntelturm hinauf.“ Zugegeben, das ist ziemlich unkonventionell und von Höhentraining kann auch keine Rede sein. Aber anscheinend hat es seine Wirkung getan.
Mit dem Heimweg hat es glücklicherweise gut geklappt. Die beiden Kuschelbärchen waren offensichtlich im Bett, alles war ruhig und wir kamen unbeschädigt ins Haus. Im Bett wollte Hannes gern noch einen Blick in die ausliegenden Zeitschriften werfen. Aber das Licht im Zimmer war so funzelig, dass er dazu seine Stirnlampe aufsetzen musste.

Dienstag, 29. September 2015



Steinhuder Meer im Nebel


Vom Wandern in der Ebene: Vom Steinhuder Meer nach Bad Nenndorf 


Der Alte Winkel ist ein gemütliches Fischrestaurant in einem alten Fachwerkhaus aus dem 18. Jahrhundert mit fairen Preisen und einem unglaublich leckeren Frühstück. Zu unserem Zimmer mit Seeblick (in weiter Ferne) geht’s eine steile Stiege hoch. Während wir noch den Rucksack auspacken fängt Hannes plötzlich an zu frieren und wir drehen schon mal die Heizung hoch. Jetzt erst mal heiß duschen. Dann essen wir sehr lecker Fisch zu Abend. Hannes kann es aber nicht recht genießen, will nur noch ins Bett. Oh, je, hoffentlich wird er nicht krank. Wir klettern gleich nach dem Essen die steile Treppe wieder hoch, Hannes klappert mit den Zähnen und verschwindet unter seiner Decke. Zum Glück finde ich im Schrank noch eine zusätzliche Wolldecke, die packe ich ihm obendrauf. Gleich darauf ist von meinem Liebsten nichts mehr zu hören, außer, na ja, ein leises Schnurren.

Als ich am nächsten Morgen aufwache, sitzt Hannes schon im Bett und liest wie üblich die Zeitung auf seinem Handy. Wie, bist du nicht mehr krank? Wer, er? Wie komme ich darauf. Ihm ist „vögeleswohl“. Jetzt hat er Hunger, Frühstückshunger. Unten ist unser Tischchen schon gedeckt. Die friesisch blonde Wirtin von gestern Abend ist nicht mehr da. Dafür eine sehr gesprächige Vertretung, eine begeisterte Reiterin, von der wir allerlei Interessantes erfahren. Zum Beispiel, dass im Alten Winkel jetzt ein modernes Zeiterfassungssystem installiert wird. Nicht um die Mitarbeiter besser kontrollieren, sondern um den Nachweis erbringen zu können, dass hier niemand trickst und der Mindestlohn korrekt ausbezahlt wird.

Unsere Wurst und Käseplatte schaffen wir beim besten Willen nicht. Kein Problem, wir bekommen eine Alufolie und dürfen die Reste einpacken. Damit kommen wir spielend über den Tag. Jetzt nur noch schnell ein Brot kaufen und dann kann’s losgehen. Beim Bäcker treffen wir die blonde Wirtin vom Abend. Wir bedanken uns nochmal für den freundlichen Service und das gute Essen. Sie freut das sichtlich und wünscht uns einen guten Weiterweg.


Meerbruchwiesen

Der E1 geht von Steinhude aus zunächst am See entlang und knickt dann nach Süden ab durch das idyllische Naturschutzgebiet Meerbruchwiesen Richtung Hagenburg und weiter nach Bad Nenndorf. Heute ist unser letzter Tag in der norddeutschen Tiefebene. Ab Bad Nenndorf wird es bergig. Der E1 taucht ein in die deutsche Mittelgebirgslandschaft: zuerst kommt der Deister, dann das Weser Bergland, der Teutoburger Wald und später das Eggegebirge. Wir freuen uns richtig darauf. Das Wandern in der Ebene macht uns nicht so recht Spaß. Uns fehlt der Wechsel von Anstrengung und Erholung. Geht es eine Steigung hinauf, ist man zuerst damit beschäftigt, einen Rhythmus zu finden. Dann geht es harmonisch, aber doch immer mit Anstrengung verbunden weiter. Höhenmeter um Höhenmeter. Und dann das Erfolgserlebnis, wenn man es mal wieder „geschafft“ hat, der Anstieg oder gar Berg bezwungen ist. Es ist immer ein kleines erhabenes Gefühl, wenn man von oben auf das inzwischen weit in der Ferne liegende Ausgangsziel schauen kann. So weit sind wir schon! Wir suchen dann mit den Augen unseren weiteren Weg: Über diesen Hügel müssen wir auf jeden Fall noch. Bestimmt liegt unser Hotel hinter diesem Bergrücken. Oder vielleicht eher hinter dem nächsten?
Am meisten vermissen wir im Flachland den Horizont.
Wir haben wunderschöne Moor- und Wiesenlandschaften durchquert. Sind an Flüssen entlang und durch Auwälder gewandert. Aber man weiß nie: Wie weit ist es noch ist bis zum nächsten Ziel. Man hat es nicht vor Augen, hat kein Gefühl für die Strecke. Es fehlen die Aussichtspunkte und die Ausblicke.

Kaliabraumhalde bei Bokeloh - auch Kalimandscharo genannt
Der erste „Berg“ den wir zu sehen bekommen, ist die riesige Abraumhalde vom Kalibergwerk Bokeloh, das letzte noch produzierende Kalibergwerk in Niedersachsen. Als wir aus einem Wäldchen herauskommen und plötzlich den mächtigen weißen Hügel vor uns sehen, wissen zuerst gar nicht, was wir da vor uns haben. Von weitem sieht er aus wie ein beschneiter Vulkan. Ein Blick auf unsere Karte klärt uns auf, hier ist die Abraumhalde eingetragen. Jetzt fällt uns auch der Geruch nach Kunstdünger auf. Es dauert lang, bis wir an diesem künstlichen Berg vorbei sind.
Beim nächsten von Menschenhand geschaffenen Monument machen wir Rast: Mittagspause am Mittellandkanal. Wir sitzen in der Sonne und schauen den Lastkähnen zu, die schwer beladen vorbeischippern. Es sieht putzig aus, wie jeder Kahn ein kleines Auto auf Deck geparkt hat. In den Fensterchen hängen Gardinen, auf der Leine flattert Wäsche. Richtige schwimmende Häuser mit Garten. Von wo nach wo geht eigentlich dieser Mittellandkanal? Ich habe das natürlich längst vergessen. Hannes weiß es fast. Wir googlen: Der Mittellandkanals ist die längste künstliche Wasserstraße Deutschlands und verbindet den Dortmund-Ems-Kanal mit WeserElbe und dem Elbe-Havel-Kanal. Letztlich ist er Teil einer Verbindung zwischen Rhein und Oder. Schon praktisch, wenn man sogar beim Wandern in der Natur ein Netz hat. Wir lesen noch ein wenig über dieses mittlerweile mehr als 100jährige Kanalwerk, essen dabei unsere mit den Frühstücksresten aus Steinhude üppig belegten Brötchen. Bis zu nächsten Brücke wandern wir etwa 2 Kilometer am Kanal entlang, dann wechseln wir auf die andere Seite und tauchen in einen dichten Wald in Richtung Bad Nenndorf ein.


Bad Nenndorf hat eindeutig seine große Zeit als Kurbad bereits überschritten. Der Altersdurchschnitt erscheint uns mindestens Ü 60. Viele der früher bestimmt schicken Pensionen und Hotels sind heute Seniorenresidenzen. Hier scheinen die Senioren von halb Niedersachsen ihren Lebensabend zu verbringen. Die meisten Kurzzeit-Patienten sind offensichtlich wegen orthopädische Erkrankungen hier. Geworben wir aber auch mit den natürlichen Heilmitteln Moor, Schwefel und Sole. Wir fühlen uns irgendwie fehl am Platz. Nein, hier gefällt es uns nicht.

Montag, 28. September 2015

Auf geschichtsträchtigem Boden: Von Hannover bis an den Fuß des Sauerlands vom 28. September bis 10. Oktober 2015

Mellendorf – Steinhude – Bad Nenndorf – Bad Münder – Hameln – Linderhof (Sternenberg) –
Lemgo – Paderborn – Detmold – Altenbeken – Willebadessen – Blankenrode –
Marsberg – Kassel



Oktoberfest im Eichkrug Mellendorf





Zimmer mit Meerblick: Von Mellendorf bei Hannover zum Steinhuder Meer

In diesem Jahr konnten wir unsere große E1 Etappe erst spät im Jahr starten. Wir hatten uns deshalb im Vorfeld viele Gedanken über das Wetter gemacht. Würde es Anfang Oktober bereits zu kalt sein? Könnte es passieren, dass wir bei langen Tagesetappen am Schluss im Dunkel wandern müssten? Alles unnötige Befürchtungen. Wir hatten wieder großes Glück mit dem Wetter und haben es immer bei Tageslicht zum Etappenziel geschafft. Ein paar Mal war es zugegebener Maßen bereits etwas dämmerig. In der ersten Wanderwoche waren wir über Mittag sogar im T-Shirt unterwegs. Unser Wandersommer im Oktober!

Wir landeten am 28. September gegen Abend am Flughafen Langenhagen-Hannover und hatten von dort fast sofort S-Bahnanschluss. Nach Mellendorf waren es nur 3 Stationen. Hier wollen wir wieder in den E1 einsteigen. Im vergangenen Jahr hatten wir in Celle aufgehört, das Stück von Celle bis nach Mellendorf würden wir uns schenken.

Wir übernachten Im Gasthof Zum Eichenkrug, dort sind gerade bayerische Wochen und die Gaststube ist voll. Ich will nichts Bayerisches hier im Norden essen und bestelle Sauerfleisch. Die Wirtin erklärt, dass es sich dabei um ein ganz typisches Gericht handelt und bei ihnen nach altem Rezept zubereitet wird. Wie fast immer zahlt es sich aus, etwas Einfaches aus der Region zu bestellen. Das Sauerfleisch stellt sich als eine saftige Schinkensülze mit Bratkartoffeln und selbstgemachter Remouladensoße heraus. Eine gute Wahl. Bei der Buchung übers Internet hatten wir keinen besonderen Eindruck vom Eichkrug gewonnen, vor Ort stellt sich das als Irrtum heraus. Wir genießen den Abend und Hannes gönnt sich zum Abschluss einen köstlichen Nachtisch: Ein duftiges Parfait mit einer Sauerkirsch-Anis-Soße. Wie nett, dass die Wirtin mir gleich eine zweite Gabel mitbringt.

E1 Bank als Gruß für die 1. Etappe

Der nächste Morgen ist noch frisch, wir legen zügig los, denn bis zum Steinhuder Meer sind es gut 37 Kilometer. Es geht über topfebenes Bauernland. Schmale Sträßchen, Wiesen und Felder rechts und links, hellbraunes Milchvieh. Viel Grün, kleine Dörfer. Der Himmel ist ganz blau und hoch, die Viehzäune werden von krummgewachsenen Pfosten gehalten. Es ist ganz flach, wir kommen schnell vorwärts, aber die Füße brennen von harten Auftreten. Als wir das Landgasthaus Meyer in Poggenhagen entdecken, sind wir sehr mehr als froh. Wir sind völlig ausgepowert, ich habe das Gefühl, meine Gesichtsmuskeln nicht mehr bewegen zu können. Brauche dringend einen heißen Kaffee. Hannes will keinen Kaffee, er nimmt lieber ein Bier. Das Gasthaus wird von jungen Besitzern geführt, eine Art Kulturkneipe auf dem flachen Land. Hier übernachten wäre nicht schlecht, wir fühlen uns so entspannt. Aber wir haben schon in Steinhude im Alten Winkel gebucht. Hannes nimmt noch ein Bier. Sind ja nur noch 10 Kilometer. Ein Katzensprung, na ja, ein großer.

Abendstimmung am Steinhuder Meer




Die letzten Kilometer werden zäh. Am Ende müssen wir auch noch die Wohngebiete von Steinhude durchqueren. Viele Ferienwohnungen, Pensionen, Zimmervermietungen. Wohnen hier auch normale Leute? Dann stehen wir am Ufer des Steinhuder Meers, Hannes will sofort ins Hotel, nichts mehr anschauen, nirgends mehr hinsitzen. Ich will wenigstens noch einen Blick auf den großen See werfen, versuche ihn zu überreden und gehe voraus. Hannes kommt mit, hockt sich schweigend auf eine Bank und ist stinksauer. Die Paarbeziehung ist gespannt. Stumm sitzen wir nebeneinander und knipsen ein paar Bilder vom farbenprächtigen herbstlichen Sonnenuntergang am blauen Wasser. Wie gut! Am nächsten Morgen waren alle Farben weg. Dichter Nebel liegt über dem See und versteckt alles hinter dickem Grau.

Donnerstag, 14. August 2014


Hier gab es die original Buchweizentorte aus Celle

Schweinemist und Fachwerkhäuser (Celle)


Der nächste Tag, unsere letzte Wanderetappe für dieses Jahr, führt uns durch den Naturpark Südheide bis zur Jugendherberge Celle. Auch diese Jugendherberge liegt am äußersten Rand der Kreisstadt, glücklicherweise aber an dem uns zugewandten. Auch so hat uns die 32 Kilometer-Distanz mehr als gereicht.
Nur wenige Kilometer hinter Müden passierten wir den Missionsort Hermannsburg. Dieser Ort mit seinem Saubermann-Image und seinen zur Schau gestellten Erinnerungen an seine auf Ludwig Harms zurückgehende Missionsgeschichte lassen bei mir Erinnerungen an meine pietistisch geprägte Jugendzeit hochkommen. Lange habe ich an die Menschen und meine Zeit in diesen freikirchlichen Gruppen nicht mehr gedacht. An all den moralin-sauren Zwang, die geistige Enge und Engstirnigkeit. Eltern, die ihren Töchtern verboten, Hosen zu tragen und sich das Haar abzuschneiden. Familien, für die ein Fernsehapparat einem Götzenaltar gleichgekommen wäre. Tanzen, Kartenspielen, Alkohol, Flirten – all das waren Versuchungen der „Welt“ und folglich tabu. Ich dachte, ich hätte diese Zeit mit ihrem unheilvollen Zwang vergessen. Aber es war nur weit nach hinten gedrängt. In Hermannsburg kam das schlechte Gefühl wieder hoch. In diesem kleinen Dorf in der Heide wurden Scharen von Missionaren „ausgebildet“, die zunächst Afrika und später andere Teile der „heidnischen“ Welt ungefragt mit den Segnungen europäischer Religion und Zivilisation beglückten.
Heute war man in Hermannsburg mit den Vorbereitungen eines Trachtenfests beschäftigt. Im Örtzepark eilten Helfer hin und her und bauten Zelte, Pavillons, Tische und Bänke auf. Wir hatten weder Zeit noch Lust, uns länger an diesem Ort aufzuhalten. In erster Linie galt das natürlich für mich. Hannes mit seiner katholischen Prägung hatte hier keine Probleme. Wir wanderten dennoch zügig weiter. Nach Celle war es noch weit genug.
In der Jugendherberge Celle wurden wir sehr freundlich empfangen und hielten noch in der Rezeption ein witziges Pläuschchen mit der Herbergsleitung. Es hätte uns gut gefallen, wenn – ja, wenn nicht dieser penetrante Geruch nach Schweinemist um das Haus gewesen wäre. Die Jugendherberge liegt im Celler Vorort Klein-Hehlen, direkt gegen über einem Betrieb mit Schweinehaltung. Sonst sind wir ja immer sehr für Natur und artgerechte Tierhaltung. Aber wenn man dann direkt gegenüber wohnt, vergisst man schon mal seine Überzeugungen. Wir mochten in unserem Zimmer gar nicht das Fenster öffnen.
Von Celle hat man einen superschnellen S-Bahnanschluss zum Flughafen Hannover. Das ließ uns bis zu unserem Abflug um 17 Uhr genug Zeit für einen ausgedehnten Stadtbummel. Auch wenn es abgedroschen klingt, wir waren wirklich begeistert. Celle hat ein wunderschönes Schloss mit großzügig angelegtem Schlosspark, eine Märchenfilm-reife Fachwerk-Altstadt und mindestens ein attraktiv ausgestattetes Museum, das Bomann-Museum für Kulturgeschichte. Hier konnten wir das niederdeutsche Bauernhaus noch einmal in Ruhe studieren. Bereits bei der Gründung des Museums wurde ein ganzes Hallenhaus ins Gebäude eingebaut. Im Gegensatz zum Wilseder Ole Hus, das auf schnellen Durchlauf von Touristengruppen eingestellt ist, erfährt man hier viele Details vom Leben in der Heide im Lauf der Jahrhunderte. Was gab es zu essen, welche Handwerksberufe gab es, wie war es um die Gesundheit der Bauern bestellt.


Nach dem Museum haben wir in der Altstadt so viele Fachwerkgiebel fotografiert, dass es Hannes schwindlig wurde. Wir saßen eine ganze Weile an einem Anlagenteich und schauten den Enten zu. Half nichts. Dann gingen wir in ein Straßencafé und versuchten es mit Kaffee und Kuchen. Half auch nichts. Ich hatte allerdings auf diese Gelegenheit gewartet, weil ich unbedingt noch die berühmte Celler Buchweizentorte mit Preiselbeersahne probieren wollte. Sie hat mir gut geschmeckt, allerdings hatte ich mir den Buchweizenboden etwas intensiver schmeckend, die Preiselbeersahne etwas fruchtiger vorgestellt. Vielleicht hatten wir nicht das beste Café erwischt. Ich werde diese Celler Spezialität wenn möglich noch einmal versuchen.
Hannes ging es immer noch nicht besser, und so gingen wir sehr langsam in Richtung Bahnhof. Ich machte mir allmählich wirklich Gedanken. Der Weg zurück kam mir dreimal so lang wie am Morgen vor. In der Bahnhofstraße entdeckte Hannes eine Dönerbude, sein Gesicht hellte sich auf: „Ich glaube, ich habe Fleischhunger.“ Er ging rein und kam mit einem Riesendöner mit Fleisch und viel rotem Krautsalat wieder raus. Bis wir zum Bahnhofsgebäude geschlendert waren, war der Patient kuriert.
Im Bahnhof holten wir unsere Rucksäcke aus der Bahnhofsmission ab und suchten uns eine Sitzgelegenheit im Warteraum. Neben einer jungen Dame war noch Platz frei. Wir nahmen unser Gepäck und setzten uns neben sie auf die Bank. Entrüstet schaute sie uns an: „Geht’s noch?“ Blaffte sie, stand auf und stolzierte mit hocherhobenem Kopf davon. Ja, bei uns ging es noch.



Mittwoch, 13. August 2014

Wein schafft Freunde: Beim Müdener Weinfest war es sehr lustig

Wein aus Müden (Müden)

Der nächste Tag bringt wieder eine lange Etappe bis nach Müden an der Oertze. Wir marschieren eher unmotiviert durch ehemaliges Militärgelände und langweilige Fichtenwälder. Hannes sehe ich heute die meiste Zeit von hinten. Ich kann mir schon kaum noch vorstellen, wie er ohne seinen roten Rucksack aussieht. In Müden angekommen ist die Überraschung groß: Gerade an diesem Tag wird hier der 797 Müdener Markt gefeiert. Ein Riesenrummel, das ganze Dorf ist auf den Beinen. Ursprung dieses Dorffests ist die Gründung der örtlichen Laurentius-Kirche mit Kirchweih im Jahr 1217, jedes Jahr am Mittwoch und Donnerstag nach dem 10. August wird seither gefeiert. Wir wollen natürlich auch hin. Müssen uns aber zuerst noch mit unseren Rucksäcken durch den ganzen Ort und das Marktgetümmel hindurchkämpfen, denn die Jugendherberge ist (mal wieder) ganz weit außerhalb und natürlich am anderen Ende des Ortes.

Der Markt bietet allerlei Besonderheiten. So gibt es hier nicht wie bei fast jedem andern Dorfrummel Bier in ordentlichen Halbliter-Krügen, nein, der Müdener bekommt sein Bier in putzigen Viertelliter-Krüglein ausgeschenkt. Entsprechend lang ist die Schlange vor den Schankstellen. Aber die meisten Männer wissen sich zu helfen und halten in jeder Hand eines dieser kleinen Gläser. Auch Hannes hat schnell dazu gelernt und kommt beim nächsten Bierholen mit zwei Gläsern zurück. Die Würste sind dafür gut doppelt so lang wie bei uns in Schwaben und ragen auf beiden Seiten weit über den Papptellerrand hinaus. Dazu bekommt man dann keinen Wecken, sondern eine bescheidene halbe Scheibe Toastbrot. Meistens hat man ja nach der Wurst noch einen trockenen halben Wecken übrig, hier wünschte man sich noch etwas Brot aus Gründen der Bekömmlichkeit.

In der Weinlaube wird Müdener Wein ausgeschenkt. Wir sind verblüfft. Wir wussten gar nicht, dass so weit im Norden Deutschlands noch Wein angebaut wird. Zum Glück schafft Wein schnell Freunde und wir kommen bei einer Flasche Spätburgunder mit Alt- und Neumüdenern ins Gespräch und werden aufgeklärt. Ja, der Wein stammt tatsächlich aus Müden. Aber, nein, nicht von hier, sondern vom Müdener Funkenberg an der Mosel. Jedes Jahr kommen Gäste aus diesem anderen Müden zum Laurentiusmarkt, schenken hier Wein aus und feiern kräftig mit. Der Wein war süffig, ein Glück, dass er nicht aus Müden an der Oertze stammte.